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Der Traum von einst

„Das ist auch nur ein Omnibus“

mein Spielkamerad und Kindkollege 

Er hat ja keine Ahnung, wovor er steht, er weiß nicht, wovon er spricht. Ich dagegen kann mich gar nicht satt sehen, der offene Mund will sich gar nicht mehr schließen. Vor uns hält ein rollender Glaspalast, der das magische K mit besonderer Würde trägt. Wieso eigentlich ein K, wenn der Bus dann Setra heißt? Dieses Rätsel bleibt vorerst noch ungelöst – erst mal einsteigen. So viele Schalter und Uhren am Fahrerplatz, und erst diese Fahrgastsitze mit verstellbaren Lehnen. Und sobald dieses Wunderwerk der Technik anfährt, genießen wir den Fahrkomfort, den wir von den Bussen, die zur Schule und in die Stadt fahren, gar nicht kennen. So oder ähnlich hat es sich zugetragen in den frühen 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts – aber die Zuneigung zu Omnibussen, die ist bis heute geblieben.

Kleine Maschine, großer Klang

Und jetzt steht er da, der Traumwagen von einst - vielleicht sogar noch schöner als damals. Kein Wunder, er wird ja gehegt und gepflegt von der Oldtimerabteilung in Neu-Ulm. Der liebe Augustin, ein Setra S10 aus dem Jahr 1955 steht wie seine historischen Markenkollegen in keinem Museum, sondern bekommt regelmäßig Ausgang. Wie eben jetzt, wo wir uns gleich neben dem Ulmer Münster treffen. Klein und bescheiden steht er da, der benachbarte Reisebus überragt ihn in der Höhe gleich um einen ganzen Meter, in der Länge sogar um mehr als drei. Aber windschnittiger als der jungeKollege ist der historische Setra allemal, seine fast femininen Rundungen geben dem Fahrwind wenig Angriffsfläche. So läuft der Oldie in Bestform noch immer seine 95 km/h, erklärt der kundige Begleiter, auch wenn nur 125 PS für Vorwärtsdynamik sorgen. Höchste Zeit, auch einen Blick hinter die drei Motorklappen zu werfen, die den legendären Henschel-Sechszylinder verschließen. Ganze 6,13 Liter Hubraum hat er und klingt doch so kernig wie ein Großdiesel von heute. Allerdings nur nach außen, nach innen tönt er mit geschmeidigem Schmelz in der Stimme, wird auch im Heck nicht übermäßig laut. Weil er nach dem Wirbelkammer-Prinzip arbeitet, der Verbrennungstakt verläuft nicht so hart und rau, wie es Direkteinspritzer dieser Tage tun. Von seiner Elastizität schwärmen die alten Fahrensmänner noch heute, vorerst springt der Reihensechser nach kurzer Vorglühphase spontan an und fällt ziemlich schnell in einen ruhigen Leerlauf. 

Jetzt darf ich ans Steuer, aber zuerst braucht es eine Einweisung. Nicht so ganz eingängig ist das umgekehrte Schaltschema des Fünfganggetriebes, das ich mir einzuprägen versuche. Wir fahren im Schnellgangmodus, so würde man es neudeutsch sagen. Das Schild neben dem Knebel am Instrumententräger erklärt, wie die Nachschaltgruppe des alten ZF-Getriebes funktioniert: Reicht die Leistung an Steilstücken nicht, kann man die Berggangstufen aktivieren – allerdings nur im Zugbetrieb, wenn der Motor unter Last arbeitet. Die Instrumente zeigen den betriebsbereiten Zustand des Oldies an, wir können also losziehen. Zuerst noch einen Blick in die Spiegel, so wie es sich gehört. Die sind natürlich nicht vom Fahrerplatz einstellbar, und noch dazu ziemlich klein. „Die sind sowieso nicht original“, erklärt Instruktor Werner Maier, „die waren rund und so winzig, dass wir für Ausfahrten die späteren Spiegelmodelle montiert haben.“ 

Natürlich gibt es im Setra S 10 noch keine Lenkhilfe, der Fahrer muss in engen Passagen schon kräftig ins weiße Bakelit-Lenkrad greifen. Aber bei weitem nicht so deftig, wie es die Frontmotor-Typen verlangten. Der Motor sitzt ja bereits hinten, die Gewichtsbalance fällt weit ausgeglichener aus. „Im Flachland fahren wir im zweiten Gang an“, erklärt Werner Maier, die ersten Schaltungen laufen noch etwas unrund. Zumal der Weg des Gaspedals recht lang ausfällt und ich mich noch nicht so recht traue. Aber nach ein paar Kilometern klappt die Bedienung des Fünfgang-Rührwerks, mit etwas Gefühl geht alles besser. Schließlich geht es auch um die eigene Fuhrmannsehre, gelernt ist eben gelernt. In den ersten Kurven erinnere ich mich an die Tipps meines Lkw-Fahrlehrers – lang her, aber in dieser Situation möchte ich sie nicht missen: Vor der Kurve die Geschwindigkeit anpassen, dann in den richtigen Gang und mit Gas durch die Kurve. So klappt es dann immer, wenngleich sich der Setra in Kurven willig eindreht. Und mit nur wenig Verbeugung flitzen wir um die Ecke, ein kleiner Stoß Zwischengas lässt die Gänge besser flutschen. Auf der Landstraße ziehen wir mit 80 km/h unsere Bahn und werden nicht zum Verkehrshindernis.

Lieferschwierigkeiten als Triebfeder

Der Fortschritt im Setra S10 ist für die Unternehmen erfahrbar. Schließlich sind wir in den Fünfziger-Jahren angekommen, in den Nachkriegszeiten sind nur wenige Autos unterwegs. Der frühe Traumwagen vieler Familien, der VW Käfer, hatte damals nicht mehr als 30 PS und lief nicht viel schneller als der Setra, aber sicher lauter. Sogar ein stattlicher Opel Kapitän, das sechszylindrige Fahrzeug vieler Wirtschaftskapitäne, musste noch mit 58 PS auskommen. An den damaligen Lastwagen flog der Setra, ganz anders als heute, geradezu vorbei. Denn diese abenteuerlichen Gefährte zogen in dieser Zeit mit zwei Anhängern und hoffnungslos überforderten Dieselmotoren ihre Bahn, kaum 60 km/h schnell und meistens langsamer. Und im Omnibusbau macht sich so langsam ein Übergang zu Heckmotoren breit. Die meisten Hersteller im Land, und davon gibt es nicht wenige, bevorzugen allerdings noch den klassischen Omnibusbau auf Fahrgestell-Basis. 

Der Hersteller Kässbohrer war zwar nicht der Erfinder des selbsttragenden Bauprinzips, doch der erste Omnibusbauer, der es konsequent umsetzte. Im Frühjahr 1950 entstehen die ersten Pläne, 1951 wird der neue Setra S8, so heißt er, den ersten Kunden vorgestellt. Für den Kunstnamen Setra wie selbst tragend hatten sich Otto Kässbohrer und seine Mitstreiter nach getaner Arbeit entschieden. Sie wussten damals noch nicht, dass dieser Name über Jahrzehnte einen ganz besonderen Klang bekommen sollte. Als Triebfeder für diesen großen Schritt nach vorn gilt bis heute allerdings eine schlechte Nachricht aus Stuttgart. Kässbohrers Fahrgestelllieferant Nummer eins, die Daimler Benz AG, sah 1950 nicht mehr ein, warum er die Karossiers noch mit Fahrgestellen und Motoren beliefern sollte. Otto Kässbohrer umschrieb die Situation später diplomatisch mit „Lieferschwierigkeiten“. Bis dahin hatten die Kässbohrer-Werke nur Omnibusaufbauten gefertigt, das sollte sich nun ändern. Schon der erste Integralbus aus Ulm fand einen entschlossenen Käufer, der den S 8-Prototypen 14 Jahre im Einsatz nutzte. Eine ganze Tonne weniger Gewicht schlug sich im Kraftstoffverbrauch nieder. Werner Maier spricht von maximal 20 Liter Diesel auf 100 Kilometer, wenn er mit dem S 10 gut ausgelastet unterwegs ist. 

Gute Ideen und Topverarbeitung

„Der liebe Augustin“ zeigt noch wenig Verschleißspuren, sein Stahlgerippe ist noch weitgehend original, seine Aluminiumhaut kennt keinen Rost. Das spricht natürlich für die sorgfältige Verarbeitung, mit der die Marke bei den Kunden punktet. Gekauft wurde der S 10 von einem Lindauer Unternehmer, ein älterer Herr, der den sehr individuell bestückten S 10 ausschließlich selbst fuhr. Als er in den Ruhestand ging, gab er den Wagen ans Werk zurück, damit er nicht in falsche Hände kommt. 37 Fahrgastsitze hat er, die Außensitze sind leicht nach hinten versetzt montiert, um mehr Schulterfreiheit zu gewinnen. Die Umsetzung dieser Idee findet man in aktuellen Setra-Modellen wieder, nach immerhin 70 Jahren. Noch so manches gibt´s zu entdecken, beispielsweise die Aschenbecher, die aus vollen Alublöcken gefräst wurden. Dass die mit Federkraft unterstützten Rückenlehnen selbst nach mehr als 50 Jahren überhaupt nicht klappern, ist zumindest bemerkenswert. Den Innenraum wärmt eine Unterflurheizung, an eine Klimaanlage hat man beim S 10 Baujahr 55 noch nicht gedacht. Wenn es dem Fahrgast zu warm wurde, hat er eben sein Kurbelschiebefenster geöffnet, auch das Dach besitzt zahlreiche Lüftungsöffnungen. Das Dachfenster im Heck lässt sich aufstellen, doch Vorsicht: Bei langsamer Fahrt dringen dann Abgase nach innen. 

Motorklappen auf

Wenn es dem Motor an langen steilen Stichen zu warm wird, bleibt der Fahrer kurz stehen. Er öffnet die beiden seitlichen Motorklappen und lehnt sie nur an. Denn die Kühlerleistung war nicht so toll, denkt bloß an so manchen VW-Käfer, der im Sommer mit offener Klappe fuhr. Ob die Augen der Fahrer früher besser waren? Der S 10-Fahrer fuhr nachts mit ziemlich funzeligen Lampen, die von einer 12-Volt-Anlage versorgt wurden. 

In den folgenden Jahren hatten die Entwickler in Ulm alle Hände voll zu tun. Stärkere Motoren, ein weiterer Ausbau des Produktprogramms, eine Einzelradführung für die Vorderachse und Luftfederung. Die ambitionierte Marke Setra hatte sich rasch etabliert und war stets für Innovationen gut. Heute ist sie als Premiummarke im Daimler Truck-Konzern neben Mercedes-Benz positioniert und versorgt sich im Konzernbaukasten mit modernsten Komponenten. 

In der Abenddämmerung lassen wir es dann genug sein. Der rüstige Setra-Oldie verdient eine Pause, die er mit ein paar Schlucken frischen Diesels und etwas Motoröl genießt. Und wir genießen das bessere Scheinwerferlicht eines modernen S 515 HD und satte 456 PS Motorleistung. Wir reisen zurück in die Neuzeit, wo alles perfekt funktioniert. Schon der Genuss, auf einem Fahrersitz Platz zu nehmen, der einen wirklich umfängt. Lenkrad, Spiegel, alles passt. Und mit einem sanften Druck aufs Gaspedal legt der Hochdecker Tempo zu und sortiert vollautomatisch seine acht Vorwärtsgänge. Der alte Setra bleibt zurück, mit ihm die Beschaulichkeit des Reisens, denn hier werden richtig Meter gemacht. Vielleicht noch ein letzter Blick in die Spiegel, die Fahrbahn ist frei - der Oldie ist bereits verschwunden.

Setra S 10

Motor

Henschel-Sechszylinder, Viertakt-Diesel, wassergekühlt,

Hubraum                     6.130 cm³,

Bohrung/Hub               100/130 mm

Nennleistung              92 kW/125 PS bei 2.500/min

Kraftübertragung

Einscheiben-Trockenkupplung, synchronisiertes ZF-Fünfganggetriebe (i = 6,42 – 0,73), Hinterachse mit Spiral-Kegelrädern. 

Aufbau und Fahrwerk

Selbsttragend, Gerippe aus elektrisch verschweißten Vierkant-Stahlrohren, Leichtmetallverkleidung.

Starre Vorderachse an Halbeliptikfedern, Banjo-Hinterachse an Halbeliptikfedern. 

ZF- Roß-Lenkung, Vierrad-Druckluftbremse, mechanische Handbremse auf die Hinterräder wirkend, Motorbremse, Aufpreis, Scheibenräder, Bereifung 9.00-20 eHD

Fahrleistungen 

Höchstgeschwindigkeit           95 km/h

Kraftstoffkonsum                    19,0 l/100 km

Maße und Gewichte

Länge x Breite x Höhe            9.850 x 2.480 x 2.800 mm

Radstand                                 4.750 mm

Wendekreis                             17,5 m

zul. Gesamtgewicht                10.400 kg 

Fahrgastplätze                        37 Sitzplätze plus 2 Klappsitze

Preis (1955)                            ca. 390.000 AS